Vom Velo als Mittel des modernen Nomadentum

Daryna
4 min readNov 2, 2020

Unterwegs zu sein.. Ständige Bewegung und unbegrenzte Freiheit. Nur der Umriss des Horizonts bestimmt deine Himmelsrichtung und der Pfiff des Windes um den Ohren erinnert an die Geschwindigkeit. Etwa so müssen früher die Leute dort gelebt haben, wo ich herkomme. Denn bis vor etwa 350 Jahren wurde diese unter dem Namen “Wildes Feld” bekannte Gegend nur von nomadischen Völker bewohnt.

Etwa so haben auch viele Menschen gelebt, bevor die bekannten Erignisse in diesem Jahr passiert sind. Leben zwischen mehreren Ländern, Jetsetting zwischen allen Kontinenten, Ferien auf dem anderen Ende des Planeten, Weltreisen, long- distance Relationships. Long-distance everything. Als ob wir den Zeit-Raum Kontinuum durchbrochen haben und überall und gleichzeitig nirgendswo sein können.

Mein Vater war Pilot, deshalb verlief meine Kindheit quasi am Flughafen und im Himmel. Ich habe mit Neugier die “rieseigen Vogel” beobachtet und konnte sogar öfters in der Pilotenkabine sitzen, als die Flugzeuge auf dem Flugplatz parkiert waren. An meine erste Reise kann ich mich nicht erinnern, da ich zu klein war. Als wir in ein anderes entferntes Land gezogen sind, war der Flugzeug die einzige Möglichkeit, Kontakt mit den Verwandten zu halten und unser Heimatland zu besuchen. Eine meiner ersten Erinnerungen ist deshalb Fliegen über die Wolken auf dem Schoss meiner Oma. Damals im Flugzeugsitz habe ich mich richtig wohl und gemütlich gefühlt.

Als wir ein Paar Jahre später zurückgekommen sind, waren es bewegte Zeiten. Reisen ergab eigentlich nicht so viel Sinn und es gab nicht so viele Möglichkeiten dazu. Das galt als Luxus und etwas für die Reichen. Das einzige Verfügbare Mittel für normale Leute war der Zug. Ein langsames Tempo und eine schöne Aussicht über die menschenleere Landschaften und über das unedliche Horizont verschönerte den Weg zum Ziel, meistens innerhalb des Landes. Diese Zeit prägte auch in einer anderen Weise meine Beziehung zur Mobilität. Ein Familienmitglied war in eine sehr traumatische Weise in ein Autounfall verwickelt und seitdem pflege ich eine etwas distanzierte und kalte Beziehung zu den Autos.

Als ich angefangen habe, Deutsch zu lernen und letzendlich zum Studium nach Deutschland kam, war der Bus das enzige tragbare Fortbewegungsmittel, um zu meinem neuen Wohnort zu gelangen. Die etwa 2000 km lange Route nach Stuttgart erinnerte manchmal wirklich an Karawan der Nomanden. So manche Mitreisende haben versucht, ihr ganzes Gut auf die Reise mitzunehmen und entsprechend hart war die Kontrolle an den Grenzposten als Antwort auf die Schmuggelversuche und Erinnerung, dass Nomadentum schlecht mit Grenzen vereinbar ist.

Interessanterweise bin ich seitdem nicht weit gekommen. Mein Leben hat sich im Umkreis von 70 km abgespielt, trotz des Umzugs über die Grenze in die von Konstanz nahgelegene Schweiz. Einzig die Reisen in die 2600 km von Züri entfernte Heimatstadt sind nach der Studentenzeit mit dem Flugzeug tragbar geworden. Natürlich war ich der Auswirkungen meines Reiseverhaltens auf unseren Planeten bewusst und habe das hinterfragt. Leider war das die einzige Alternative für mich, wenn ich meine Familie und Freunde wiedersehen wollte und in Verbindung bleiben wollte. Damals sah es so aus, als ob das das Bild des modernen “Nomadentums” durch das Fliegen und “Turbo-Geschwindigkeit” für immer geändert wurde. Der Weg selber war so kurz, dass man unterschiedliche Orte fast “nahtlos” nacheinander in das eigene Lebenskontinuum einwegen konnte, die Ereignisse an unterschiedlichen Stellen auf seltsame Weise ähnlich und eigenartig erlebte und so mehrere Siedlungen zu den eigenen Lebensstationen machte.

Wie nachhaltig waren eigentlich die Nomaden? Ich habe immer gedacht, dasssie sich wenig um die Umwelt gekümmert haben. Es sollte doch denen egal sein, wenn sie immer weiter gezogen sind? Doch als ich gelesen habe, dass nomadische Viehzucht eigentlich umweltschonend ist, habe ich verstanden dass diese Völker mehr Weissheit haben als vorher vermutet. Schliesslich kehrten sie ja zu gewissen Stellen wieder zurück und liesen die Erde so während ihrer Abwesenheit “erholen”. Sie waren sogar ziemliche Vorreiter in Sachen Kreislaufwirtschaft.

Je mehr ich mich mit dem Klimawandel auseinandergesetzt habe, desto mehr stand Fliegen im Kontrast zu meinen täglichen Versuchen nachhaltig zu leben. In den letzten zwei Jahren habe ich die umweltfreundlichen Gewohnheiten angeeignet, eine nach der anderen. Eine Veränderung zog die Änderungen in mehreren Bereichen des Lebens nach, wie die Glieder einer Kette.

Als kürzlich das Lebensradius von uns allen auf einen kleinen Umkreis geschrumpft ist, bin ich sehr froh dass ich seit 2 Jahren ziemlich überall Velo fahre. Mit dem Velofahren habe ich in dieser Zeit mein Stück zu Hause auf zwei Räder erschaffen und angefangen, mich im sesshaften Leben richtig wohl zu fühlen. Sogar eingequetscht zwischen Autos oder zu eng überholt, wenn es mir ziemlich unwohl wird und ich mich an meinen Verwandren erinnere, fühle ich eine unbegrenzte Freiheit. Sogar wenn alle anderen Reisemöglichkeiten nicht verfügbar sind, bleibt das Velo als der Mittel der Flucht und die Möglichkeit, eigene Ängste zu überwinden und das Rauschen des Windes in den Ohren zu fühlen. Vielleicht ist das Velo ein Mittel, um auf die nachhaltige Weise unsere Neugier zu stillen und unsere nomadische Seite auszuleben. Schliesslich ist geniessen des Weges genau so wichtig wie siedeln, wenn man ganzes Leben lang unterwegs ist.

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